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Ich versuche gleichmäßig zu atmen, doch bei meinem aktuellen Tempo fällt es mir schwer. Schweiß tropft von meiner Stirn, meine Beine brennen und trotzdem renne ich immer weiter. Immer weiter in die Dunkelheit, der Schmerz in mir treibt mich voran. Die Dunkelheit gibt mir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit, sie ist in letzter Zeit mein treuster Begleiter. Ich will alles vergessen, alles hinter mir lassen und nie mehr zurückkehren.

Der Tod wäre mir ein willkommener Trost, doch etwas hält mich davon ab. Ein kleines winziges Licht der Hoffnung. Die Hoffnung, dass er eines Tages zu mir zurückkehrt, obwohl ich weiß, dass dies niemals geschehen wird.

 

Abrupt bleibe ich stehen und lehne mich an einem Baum. Tränen der Verzweiflung laufen über meine Wangen und ich lasse mich an den Baum angelehnt nach unten sinken. Ich winkle meine Beine an, ziehe sie zur Brust und schlinge meine Arme um meine Beine. Zum gefühlt tausendsten Mal gebe ich mich dem Schmerz hin. Ich bekomme diese beschissenen Bilder einfach nicht aus meinem Kopf.

 

Wie er in den Armen einer anderen liegt, sie küsst, sie heiratet, sie schwängert…

 

Ich bekomme kaum noch Luft, immer und immer wieder die gleichen Bilder.

Meine Augen brennen, die Tränen fließen ununterbrochen. Ich lehne meinen Kopf an den Baum, meine Tränen wollen einfach nicht versiegen. Gefühlt eine halbe Ewigkeit sitze ich so da, bis auf einmal mein Handy vibriert.

Ich hole es aus der Jackentasche und sehe auf das Display.

Verschwommen lese ich den Namen und seufze.

 

Nathalie…

 

Wer sollte es sonst sein? Sie hat ja einen eingebauten Radar für so was. Sie riecht aus hundert Kilometern Entfernung, dass es mir schlecht geht.

Normalerweise freue ich mich über ihre Nachrichten, sie hat meistens Bilder von einem Game in petto, was ich aktuell spiele. Doch seit einigen Tagen versuche ich sie zu ignorieren. Es fällt mir zwar unheimlich schwer, aber ich möchte sie nicht länger mit meinen Problemen und Sorgen behelligen, sie hat genug Eigene.

Ich weiß, dass sie mir in der Vergangenheit schon oft geholfen hat, privat, aber auch beruflich. Ich bin ihr deswegen auch unendlich dankbar, doch wenn die Dunkelheit mich vollkommen übermannt, möchte ich, dass sie davon nichts mitbekommt. Ich möchte einfach keine alten Dämonen wecken, es reicht, wenn sie es bei mir tun.

 

Ich habe dies zwar schon öfters versucht, doch sie hat es jedes Mal wieder geschafft, mich doch wieder zum Reden zubewegen. Aber diesmal werde ich es wirklich durchziehen, zu sehr stehe am Abgrund…

 

Ich entsperre mein Handy und lösche den Chatverlauf von Nathalie. Ich stecke mein Handy wieder weg und stehe leicht benommen auf. Langsam schleppe ich mich aus dem Wald. Als ich die Straße erreiche, bemerke ich erst, dass es bereits dunkel ist. Ich sehe hoch zu den Sternen und seufze.

Ich wische mir die Tränen weg und mache mich schleichend auf den Weg nach Hause.

 

„Lauren! Da bist du ja endlich! Ich habe mir Sorgen gemacht!“, werde ich gleich begrüßt, als ich die Haustür öffne.

„Du bist ja immer noch da! Aber hey, schön dich zu sehen Steven!“, begrüße ich ihn.

„Hör auf mit dem Scheiß! Wo warst du?“

Okay…, er ist aufgebracht. Vorsicht, sehr dünnes Eis, sehr dünn…

Zum Glück hat er meine neue Handynummer noch nicht, sonst hätte ich bestimmt dutzende Anrufe in Abwesenheit gehabt.

„Ich war spazieren. Musste einfach mal raus, frische Luft schnappen.“

„Sechs Stunden lang?“

 

Ups…

 

„Beruhige dich. Mir geht es gut. Ich bin wieder da, also alles gut.“, ich ziehe meine Schuhe im Vorflur aus und betrete meine Wohnung.

„Nein ist es nicht. Deine Augen sagen was anderes. Du hast wieder geweint!“

„Ich bin einfach nur müde, das ist alles.“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.

„Das kannst du sonst wem erzählen, aber nicht mir!“

„Steven lass gut sein. Es ist alles in Ordnung.“

Wütend gehe ich ins Bad und knalle die Tür hinter mir zu.

„Hau jetzt bloß nicht ab. Du musst darüber reden!“

„Nein muss ich nicht und jetzt lass mich in Ruhe.“, schreie ich durch die Tür.

„Nein, das tue ich nicht. Deine Oma ist gestorben, Shane hat dich verlassen, du musstest notgedrungen in das Haus deiner Oma ziehen. Die Arbeit macht dir zu schaffen, das kann man nicht einfach so verkraftet. Du brichst irgendwann zusammen!“

„Ich komme schon klar!“

 

Ich komme immer klar. Verdammt, für immer allein zu sein…

 

„Einen Scheiß tust du. Rede mit mir, mit einer wildfremden tust du es ja auch, aber nicht mit deinem besten Freund!“, beschwert sich Steven aufgebracht.

Ich reiße die Tür auf und funkle ihn wütend an. Ich kann mir denken, von wem er redet.

 

„Wovon redest du?“, frage ich wütend.

„Von deiner Kollegin! Mit ihr redest du, aber nicht mit mir.“

„Was hat denn jetzt Nathalie mit dieser Diskussion zu tun?“

„Eine Menge! Ihr vertraust du Sachen an, die ich wahrscheinlich nie von dir hören würde. Ich habe vor einigen Tagen mitbekommen, wie du mit ihr geredet hast. Du kennst sie doch kaum. Ihr habt euch gerade mal, wie oft, zwei, drei Mal gesehen? Ansonsten nur per Telefon. Wie kannst du ihr so sehr vertrauen, aber mir, deinem besten Freund, nicht? Demjenigen, der dich schon seit der Schulzeit kennt.“

„Spionierst du mir nach? Hast du sie noch alle? Außerdem ist es immer noch meine Sache, mit wem ich rede. Diese Diskussion ist hiermit beendet!“

Steven holt Luft…

„Nein! Es reicht!“, unterbreche ich ihn schnell und knalle ihm die Tür vor der Nase zu.

Ich lehne mich an die Tür und rutsche auf den Boden.

Mir kommen erneut die Tränen.

 

Dieses ganze Gerede kann ich nicht mehr hören, warum können mich alle nicht einfach in Ruhe lassen? So oder so verschwinden die Schmerzen in meinen inneren nicht. Der Schmerz in meiner Brust wird immer schlimmer. Schnell stehe ich auf, ziehe meine Jacke und meinen Pullover aus und schnappe mir eine Nagelschere. Ich balle meine linke Hand zur Faust und füge mir mit der Schere ein paar Schrammen auf den Unterarm zu. Als die Wunden brennen und leicht bluten, lässt der Druck auf meinem Herzen nach und ich bekomme wieder Luft.

Ich packe die Schere wieder weg und betrachte meinem Arm. Er ist bereits von einigen leichten Narben gezeichnet. Ich weiß, dass es falsch ist, aber nur so komme ich mit den Schmerzen und dem Verlust klar. So kann ich mein aktuelles Leben ertragen.

Ich stelle die Dusche an, ziehe mich aus und stelle mich unter das warme Wasser. Meine Wunden brennen noch heftiger, doch dieser Schmerz ist mir willkommen. Ich lasse das warme Wasser einfach eine Weile über mich laufen. Erneut breche ich in Tränen aus, ich vermisse Shane so sehr.

Eine ganze Weile bleibe ich so stehen, bis ich das Wasser ausstelle, mich abseife und meine Haare wasche und dann erneut das warme Wasser über mich laufen zu lasse. Ich steige aus der Dusche, wickele mir ein Handtuch um und gehe zum Spiegel.

 

Meine traurigen blauen Augen starren mir entgegen. Meine nassen langen blonden Haare fallen mir offen über den Rücken. Durch den ganzen Stress auf Arbeit, den Tod meiner Oma, die Trennung von Shane habe ich elf Kilo abgenommen und ich selbst habe das erst gar nicht so mitbekommen. Erst eine ehemalige Kollegin hat mich darauf aufmerksam gemacht.

Als Steven es ebenfalls erfuhr, stand er ein paar Tage später plötzlich vor meiner Tür. Er will dafür sorgen, dass ich wieder vernünftig esse. Hätte ich doch bloß nie ein aktuelles Foto von mir als Profilbild eingestellt. Ich könnte mich dafür selbst ohrfeigen, aber dafür ist es jetzt auch zu spät und ich muss damit leben.

Er geht mir tierisch auf den Sack und seine ständigen Vorwürfe gehen mir gewaltig auf die Nerven.

 

Ich weiß, dass er es nur gut meint, aber ich kann das alles einfach nicht gebrauchen. Aber in einem Punkt hat er vollkommen recht – ich kenne Nathalie kaum.

Doch dies hält mich nicht davon ab, mich mit ihr verbunden zu fühlen.

Steven kann nicht verstehen, warum Nathalie mir so wichtig ist. Ehrlichweise kann ich es selbst nicht verstehen oder erklären. Wie kann man einem Menschen so sehr vertrauen, mit den man hauptsächlich nur per Telefon spricht oder auf Arbeit? Warum fühlt es sich so an, als ob man diesen Menschen schon sein Leben lang kennt? Und doch habe ich das Gefühl, dass sie zwar alles über mich weiß, ich aber überhaupt nichts über sie. Wie kann es sein, dass sie mir fehlt, wenn wir nicht miteinander schreiben? Wie kann man einem Menschen so schnell liebgewinnen, dass man ihn nie mehr verlieren möchte? Wie schnell kann aus einer Kollegin eine gute Freundin werden, was aber nur von einer Seite ausgeht? Es gibt so vieles, was ich mit Nathalie verbinde und doch habe ich dafür keine Erklärungen.

Keiner meiner Freunde war da, als ich sie am dringendsten gebraucht habe, keiner… außer Nathalie. Keiner hat geantwortet oder treffen wurden kurz vorher abgesagt. Nur Nathalie war da, die Person, die ich gerade zwei Mal live gesehen habe. Die am Arsch der Welt wohnt und durch das Telefon merkt, dass es mir scheiße geht, obwohl ich versuche mich zu verstellen.

Ohne es zu wollen, brachte sie mich zum Reden.

Zuerst ging es nur um die Arbeit, doch durch ein Hintergrundbild wurde es nach und nach privater. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten, was teilweise schon echt unheimlich war. Nach einer kurzen Zeit fingen wir beide an, das gleiche Spiel zu spielen. Wir tauschten die Handynummern aus und ab da gab es kein Halten mehr. Mein Handy war noch nie so voll von irgendwelchen Bildern von Animes und Spielen. Es ist nicht schlimm, ich finde es cool mich mit jemandem über so was auszutauschen. Irgendwann sprachen wir auch über ernstere Themen. Ich erzählte ihr von meiner Oma und Shane. Sie hörte mir zu und versuchte zu helfen. Ich habe sie mit der Zeit echt liebgewonnen. Als meine Oma starb und Shane sich ein paar Monate danach trennte, war sie da. Sie war die Einzige, die in letzter Zeit für mich da war. Sie fing mich irgendwie unbewusst auf, mir fällt es leichter mit ihr zu reden als mit irgendjemand anderem.

Sie weiß es nicht, aber Nathalie ist aktuell mein Anker im Leben, mein kleiner heimlicher Engel, der mich davon abhält, die Tabletten auf meinem Nachttisch zu schlucken. Unbewusst hilft sie mir, mit dem ganzen Scheiß fertig zu werden. Sollte ich mein Leben doch beenden, kann ich mir vorstellen, dass es sie treffen und traurig machen würde. Es würde sogar vielleicht alte Dämonen wieder zum Leben erwecken und das will ich ihr auf keinen Fall antun.

Ich habe Nathalie viel zu verdanken, so viel, dass ich das alles nie wieder zurückgeben kann. Ich muss ihr mittlerweile so auf die Nerven gegangen sein, dass sie wahrscheinlich mit den Augen rollt, wenn ich sie anrufe.

Deswegen ignoriere ich sie, in der Hoffnung das sie mich dadurch hasst und ich dann gehen kann. Zu nahe stehe ich am Abgrund und mehr und mehr bin ich bereit zu springen. Die Dunkelheit in mir bricht sich Bahn, meine Selbstmordgedanken werden immer häufiger, doch noch kann ich mich davon abhalten.

Ich möchte Nathalie da nicht mit reinziehen, das hat sie einfach nicht verdient.

Daher antworte ich nicht mehr, zu ihrem eigenen Schutz.

Sie macht es mir zwar nicht gerade einfach, aber ich habe es bereits eine Woche lang schon durchgehalten und das ist schon ein Fortschritt.

Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch. Ich wende mich vom Spiegel ab und öffne vorsichtig die Tür.

Gott sei Dank, Steven ist verschwunden.

Ich schleiche schnell in mein Zimmer und gehe zu meinem Kleiderschrank. Ich hole ein paar Klamotten heraus und ziehe mich an. Im Moment trage ich überwiegend Schwarz, passend zu meiner aktuellen Stimmung.

 

Shane war mein Leben, mein Licht am Ende des Tunnels. Ich habe ihm vertraut, alles für ihn getan, ihm seine Freiräume gelassen und doch hat er mich im Stich gelassen. Er wirft einfach acht Jahre weg und ich hatte nicht mal die Chance, um ihn zu kämpfen.

 

Ich setze mich auf das Bett und versuchte die Tränen zurückzudrängen, die über meine Wangen laufen wollen.

 

Damals hat Shane um mich gekämpft, er wollte diese Beziehung, obwohl er wusste, wie kaputt ich war. Ich wollte diese Beziehung zuerst gar nicht. Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch zusammengearbeitet.

Durch eine vorherige Beziehung ist mein Freundeskreis nach unserer Trennung zerbrochen und ich war die Böse. Im Arbeitsleben wäre das noch weitaus schlimmer, wenn es nicht funktionieren sollte. Auf Arbeit verbringt man die meiste Zeit und ich wollte einfach kein komisches Umfeld schaffen. Daher wollte ich keine Beziehung mit Shane.

Zudem fällt es mir unheimlich schwer, andere zu vertrauen, ich verschließe mich, gebe mich fröhlich und glücklich, doch innerlich zerbreche ich, könnte die ganze Zeit heulen und mich in eine dunkle Ecke verkriechen. Doch bei Shane und Nathalie war das anders, ich kann es nicht erklären. Ihnen habe ich mich so schnell geöffnet, wie keinem anderen jemals zuvor, nicht einmal meiner Familie.

Doch trotz alledem wollte Shane diese Beziehung. Nach einer Weile gab ich nach und Stück für Stück öffnete ich mich ihm. Er holte mich aus meinem Elternhaus und brachte mir das Reden bei. Nach und nach lernte ich ihm zu vertrauen und ich öffnete mich ihm ganz. Dank ihm hatte ich wieder Spaß am Leben.

Doch nach acht Jahren meint er plötzlich, dass er nicht weiß, ob er noch Gefühle für mich hat und um mich nicht noch mehr zu verletzten, in dem er fremdgeht oder so, beendete er unsere Beziehung. Ich wurde vor vorendeten Tatsachen gestellt und aus meiner Not heraus, bin ich in das Haus meiner Oma gezogen. Dies ist mittlerweile ein dreiviertel Jahr her, aber mir kommt es so vor als sei es erst gestern gewesen.

Vor ein paar Wochen habe ich dann durch einen dummen Zufall herausgefunden, dass er schon eine neue hat. Nach und nach wurde mir so einiges klar, er hatte sie damals schon kennen gelernt und sich deshalb von mir getrennt. Obwohl er versprochen hatte, immer für mich da zu sein, mich nie mehr allein zu lassen.

Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen. Sodass ich mich direkt in der Dunkelheit wiederfand.

Ich bin so kaputt, so kaputt wie damals…, wenn nicht sogar schlimmer. Nur das ich mich, dank Shane, nicht mehr so gut verstellen kann. Für Nathalie bin ich wie ein offenes Buch und das muss ich ändern.

Mein Schicksal ist es allein zu sein. Ich bin nur noch ein Wrack, dass sich den ganzen Tag im Bett verkriechen und heulen könnte.

 

Mir kommt plötzlich ein Song in den Sinn, der mich schon eine ganze Weile begleitet. Ich wische die Tränen schnell weg und gehe zurück ins Bad. Ich sammle meine Sachen auf, ziehe meine schwarze Lederjacke an und hole mein Handy hervor.

Fünf Nachrichten von Nathalie. Ich entsperre mein Handy und lösche erneut ihre Nachrichten, ohne sie zu lesen. Ich öffne die Musik App und suche das Lied heraus – Scheiß Liebe von LaFee.

Ich mache mein Handy laut, schmeiße die Wäsche in den Wäschekorb und mache mich auf den Weg in die Küche.

 

Ich schmeiße die Kaffeemaschine an und mache mir einen Kaffee.

Meine Musik wird unterbrochen und mein Klingelton erklingt. Ich hätte es nicht auf laut stellen sollen.

Ich sehe auf das Display und schalte es auf stumm. Ich lasse die Mailbox ran gehen. Ich schmeiße das Handy auf die Küchenzeile, lehne mich dagegen und nehme einen Schluck von meinem Kaffee.

Meine Musik wird erneut unterbrochen. Ich sehe auf mein Handy – Mia. Sie ist ebenfalls eine Arbeitskollegin. Normalerweise gehe ich bei ihr sofort ran, doch jetzt ist mir nicht danach. Ich rufe sie nachher zurück, wenn ich mich wieder gesammelt habe.

Meine Musik geht wieder an und Steven betritt den Raum. Schnell mache ich die Musik aus und stecke mein Handy in die Jackentasche.

Ich trinke schnell meinen Kaffee aus und will den Raum verlassen, als Steven mich aufhält.

„Lauren…“

„Nein, lass es. Ich habe keine Lust auf eine weitere Diskussion.“, unterbreche ich ihn sofort.

„Lauren, es tut mir leid, okay? Ich habe überreagiert.“

„Ja, hast du! Aber wenn du mich entschuldigen würdest, ich habe noch was zu erledigen!“, sage ich und drehe mich weg.

„Und was? Es ist halb zehn!“

„Na und? Ich kann tun und lassen, was ich will!“, ich winke ihm zu und verlasse das Haus.

Ich gehe durch die Straßen, bis ich wieder den Wald erreiche.

Ich setze mich auf einen Baumstumpf und schaue hoch zu den Sternen.

Ich fühle mich so allein, keiner da der mich einfach mal in den Arm nimmt und sagt, alles wird wieder gut. Keiner der mich aufmuntert. Ich habe null Plan, was ich mit mir anfangen soll.

Urlaub zu haben ist echt scheiße, ich habe kaum Ablenkung, immer wieder muss ich an Shane denken und das holt all den Schmerz wieder. Ich kann ihn einfach nicht vergessen, das werde ich wohl nie.

Ich seufze.

Ein scheiß Leben, gefangen zwischen dieses beschissene Leben zu beenden und jeden Tag wieder aufzustehen, um weiterzumachen. Aber in letzter Zeit tendiere ich eher zum ersteren.

Ich funktioniere einfach nur noch, Tag ein, Tag aus. Ich denke immer erst an andere als an mich selbst.

Ich hole mein Handy aus der Jacke und wähle Mias Nummer.

„Hey Mia, du hattest angerufen?“, begrüße ich sie. Da sie so wie ich wenig schläft, kann ich mir sicher sein, dass sie um diese Uhrzeit nach wach ist.

„Klar, ich sollte dich doch auf den Laufenden halten oder hat sich das geändert?“, sagt sie hoffnungsvoll.

„Nö hat es nicht! Du hälst für mich die Stellung und außerdem muss ich auf den neusten Stand bleiben. Sonst falle ich gleich am ersten Tag vor Schreck um, wenn ich wieder da bin.“

Sie lacht.

„Stimmt. Aber es ist alles beim Alten. Ich unterstütze Nathalie, wo ich kann und die anderen machen ihr Ding und machen pünktlich Feierabend. Aber sobald unser neuer Chef aus dem Urlaub zurück ist, muss sich was ändern. So kann es nicht weitergehen!“

„Und du meinst, das wird sich je ändern? Ich glaube nicht mehr daran. Obwohl er schon mehr bewirkt, hat als unsere alte Chefin!“

„Ja, ballern, ballern, ballern!“

Wir lachen.

„Genau! Darauf freue ich mich schon, wenn ich wieder da bin.“

„Ich mich auch, dann kannst du wieder übernehmen!“

„Na, vielen Dank auch! Aber ja, ich werde den fachlichen Ansprechpartner eh nicht los!“

„Genau, du machst das schon. Aber mal im Ernst, wenn unsere alte Chefin noch eins auf den Deckel bekommen würde…“

„Wäre die Welt wieder in Ordnung!“, beendet ich ihren Satz.

Wir reden noch eine Weile, ehe wir wieder auflegen.

Ich stehe auf und gehe wieder nach Hause. Ich ziehe mir meine Schuhe und meine Jacke aus und gehe in mein Zimmer.

Ich schließe die Tür, stecke mein Handy an das Ladekabel und schmeiße mich auf das Bett. Ich rolle mich zusammen und schließe die Augen.

Wieder schießen mir schreckliche Bilder von Shane in den Kopf und ich fange wieder an zu heulen.

Irgendwann schlafe ich vor Erschöpfung ein und wache weinend ein paar Stunden wieder auf. Ich wische mir die Tränen weg und gehe ins Bad. Ich mache mich frisch und putze mir die Zähne. Ich käme mir meine Haare, binde sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und gehe mich umziehen.

Danach gehe ich in die Küche und mache mir einen Kaffee.

Während die Maschine läuft, hole ich mein Handy aus meinem Zimmer. Ich schnappe mir meine Tasse und setze mich auf die Couch.

Erneut eine Nachricht von Nathalie und zwei von Mia. Die von Nathalie lösche ich sofort und antworte Mia.

„Morgen.“, kommt es plötzlich von hinten.

„Morgen. Du bist schon wach?“, frage ich verwundert.

„Ja, ich konnte nicht mehr schlafen. Celine hat gestern noch angerufen, es gibt ärger Zuhause. Ich muss heute Abend schon zurückfahren.“

„Was für ein Wunder! Schön, schöne Grüße!“, sage ich sarkastisch, dennoch gut gelaunt.

„Mir gefällt es zwar nicht, dich so allein zulassen, aber ich habe leider keine andere Wahl.“

„Schon gut! Familie geht vor. Ich komme schon klar.“

„Lauren…“

„Nein! Herr Gott, fahr und lass mich endlich in Ruhe! Ich schaffe das schon, ich komme ganz gut allein klar, das tat ich schon immer! Also pack deine Sachen und fahr!“, sage ich und lasse ihn stehen.

Ich gehe in mein Zimmer und lege mich auf das Bett.

Zu gern würde ich jetzt Nathalie schreiben, sie würde mich in kürzester Zeit wieder aufbauen. Doch ich tue es nicht, diesmal bleibe ich meinen Vorsetzen treu.

Plötzlich klopft es an der Tür.

„Wenn du wieder mit demselben Scheiß anfängst, kannst du gleich wieder gehen.“, sage ich durch die Tür.

Die Tür geht langsam auf und Steven setzt sich neben mich auf das Bett.

„Es tut mir leid. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Es macht mich echt fertig, dich so zusehen. Und es nervt mich tierisch, dass du mit einer fast fremden redest, aber nicht mit deinem besten Freund.“, sagt er vorsichtig.

„Wenn es dich beruhigt, ich habe seit einer Woche weder mit Nathalie gesprochen noch mit ihr geschrieben.“, ich setze mich auf.

„Das erklärt, warum du so unausgeglichen bist und gar nicht mehr lächelst.“, stellt Steven fest.

„Was soll das denn schon wieder heißen?“, frage ich genervt.

„Sie scheint dir ins Gewissen zu reden und du hörst auf sie. Sie scheint dich jedes Mal aufmuntern zu können, was ich in letzter Zeit nicht geschafft habe. Auch wenn ich das zwischen euch nicht verstehe, merke ich, dass sie dir gut tut. Aber seit einer Weile bist du anders, bist schneller gereizt und öfters trauriger.“

„Was für eine Beobachtungsgabe. Aber das hat nichts mit Nathalie zu tun.“, gebe ich zu.

„Sondern?“, bohrt Steven vorsichtig nach.

Ich seufze: „Shane hat bereits eine Neue.“

Erneut breche ich in Tränen aus.

„Oh scheiße!“, Steven nimmt mich in die Arme und versucht mich zu trösten.

„Was kann ich tun?“

„Gar nichts. Ich muss da allein durch, ich muss über ihn hinwegkommen!“, sage ich schluchzend.

„Du bist aber nicht allein!“

„Ich muss das allein schaffen, Steven!“

„Okay, aber wenn du was brauchst…“

„Sage ich Bescheid!“, ich zwinge mich zu einem Lächeln.

„Okay, Du solltest mit Nathalie reden, das würde dir gut tun.“

„Sie wieder live zu sehen und einen ganzen Tag mit ihr zu verbringen, das würde mir gut tun!“

„Was hält dich davon ab?“

„Corona und persönliche Gründe.“

„Na gut. Ich geh dann mal packen.“

Ich nicke und Steven verlässt mein Zimmer.

Ich atme tief durch.

Mein Leben ist echt beschissen und wieder schießt der Gedanke mein Leben zu beenden durch meinen Kopf.

Ich sehe zu den Tabletten, noch nie waren sie so verlockend, wie jetzt gerade.

Ehe ich noch was Dummes tue, renne ich ins Bad, schließe die Tür und schnappe mir wieder die Nagelschere. Ich krempele meinen Ärmel hoch und füge meinem Unterarm wieder ein paar Schrammen zu.

Erleichtert lege ich die Schere wieder weg und ziehe den Ärmel wieder runter.

Ich betätige die Klospülung zur Tarnung und verlasse das Bad.

Ich gehe in die Küche, kippe meinen kalten Kaffee weg und mache mir einen neuen.

Steven kommt aus dem Gästezimmer und schmeißt sich auf die Couch.

„Drei Stunden habe ich noch, was wollen wir noch machen?“, fragt er.

„Gute Frage. Zocken oder einen Film?“, ich setze mich zu ihm.

„Was hälst du von Quantico oder Luzifer?“

„Das sind aber keine Filme.“, lache ich.

„Ich weiß, es ist ein weiterer Vorschlag.“, meint er.

„Ah ja…, dann Luzifer oder Vampire Diaries?“, grinse ich.

„Vergiss es! Dann also Luzifer.“

Ich lache und stelle den Fernseher an. Ich wähle Amazon Prime und starte die erste Folge.

Wir schauen uns ein paar Folgen an, ehe Steven sich auf den Weg macht.

Endlich wieder Ruhe. Doch sofort kommt das Gefühl der Einsamkeit zurück.

Ich nehme mir ein Mix Bier aus dem Kühlschrank und trinke es halb leer. Ich gehe zur Couch zurück und schaue mir die Serie weiter an.

Kurz nach Mitternacht mache ich alles aus und gehe ins Bett.

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